Mannheim, 19. Februar 2016. (red/cr) Warum fliehen gerade seit dem Sommer vermehrt Menschen aus ihrer Heimat? Und was haben wir damit zu tun? Dr. Annette Weber, Mitglied der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik, beleuchtete in einem Vortrag am Donnerstagabend im Forum die Situation in Eritrea, Sudan und Somalia. In der anschließenden Publikumsdiskussion wurde auch die aktuelle Außenpolitik der EU hinterfragt. Dr. Weber sieht deren Abschottung oder “Versicherheitlichung” als Gefahr und die aktuellen Pläne für Rückführungsabkommen als “an der Realität vorbei”.
Von Christin Rudolph
Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltet derzeit eine Vortragsreihe mit dem Titel “Flucht und Asyl: Krisen der Herkunftsländer”. Dr. Sabine Fandrych, Leiterin des Fritz-Erler-Forums Baden-Württemberg, erklärte, man habe sich zum Ziel gesetzt, viele Fragen zu stellen.
Denn einfache Antworten sind meist keine Antworten.
Am Donnerstagabend sollte es im Jugendkulturzentrum Forum speziell um das Horn von Afrika gehen – Äthiopien, Eritrea, Somalia und Sudan. Dr. Nicole Hirt, die über Äthiopien und Eritrea referieren sollte, erkrankte jedoch kurzfristig. Das rief große Enttäuschung unter den knapp hundert Zuhörern hervor, die zum überwiegenden Teil nicht “jugentlich”, sondern eher älter waren. Im weiteren Verlauf des Abends zeigte sich, dass vor allem das Interesse an Eritrea groß war.
Die Menschen wollen zurück in ihre Heimat
Dr. Annette Weber, Mitglied der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik, referierte daher kurzfristig auch über Eritrea. Innerhalb von nur 50 Minuten beleuchtete sie Fluchtursachen in Eritrea, Somalia und im Sudan. Dabei war zu merken, dass sie sich bewusst kurz fasste und auch einige Grundlagen voraussetzte. Durch Redebeiträge von Gästen wurde deutlich, dass sich viele bereits mit Aspekten wie Entwicklungshilfe und instabilen Staatsformen auseinandergesetzt hatten.
Dr. Weber betonte, was oft außer Acht gelassen werde – die allermeisten Flüchtlinge sind Binnenflüchtlinge. Sie fliehen also innerhalb ihres Heimatlandes, in Lager an der Grenze oder in Nachbarländer. Seit Jahren gebe es am Horn von Afrika eine Art Fluchtrotation, so Dr. Weber.
Die Menschen kommen alle paar Jahre zurück und versuchen, sich wieder anzusiedeln.
Es gebe auch Gebiete, in denen die Bevölkerung tagsüber durch Angriffe in Sümpfe und Wälder vertrieben wird, nur um nachts wieder zurückzukehren. Solche Menschen werden vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR nicht als Flüchtlinge registriert. Aber auch diesen Menschen ist es nicht möglich, Felder zu bestellen oder Vieh zu versorgen. Solange die Angriffe andauern, ist an wirtschaftliche Entwicklung nicht zu denken.
Ständig im Kriegszustand
Bewaffnete Konflikte nennt Dr. Weber als Hauptursache für die Flucht aus Somalia und dem Sudan. Der Sudan etwa befindet sich bis auf kürzere Unterbrechungen praktisch seit der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Großbritannien 1955 im Bürgerkrieg. Die Bevölkerung kennt keinen Zustand des Friedens.
Man kann sich gar nicht mehr vorstellen was man tun sollte, wenn man keinen Krieg führen würde.
Für den südlichen Teil Sudans, der sich 2011 vom restlichen Sudan abgespalten hat, ist das besonders verheerend. Denn durch die kriegerische Auseinandersetzung mit dem Sudan bleiben keinerlei Ressourcen übrig, um das Land aufzubauen. Es gibt keine Infrastruktur – keine Schulen, keine Straßen, keine Märkte.
Was den Freidensprozess so schwierig macht? Der bewaffnete Konflikt ist lukrativ für die, die ihn betreiben. Es gibt kaum einen Anreiz für Friedensbemühungen.
Die Menschen leben zum Teil in der zweiten Generation in den Flüchtlings-Camps.
Kaum Selbstbestimmung
In Eritrea hingegen stellt sich die Situation anders dar. Hier gibt es einen funtkionierenden Staat – aber er kontrolliert die Bevölkerung stark, von Menschenrechtsverletzungen ganz abgesehen. Die in den meisten Fällen angegebene Fluchtursache ist der Zwangsmilitärdienst.
Mit 18 Jahren werden alle Frauen und Männer eingezogen. Unbefristet. Niemand weiß, wann sie entlassen werden. Den Einsatzort bestimmt das Regime. Kontakt zur Familie zu halten oder gar eine eigene zu haben, ist oft sehr schwierig.
Aus Eritrea zu flüchten hat aber noch aus einem anderen Grund eine andere Dimension als die Flucht aus einem anderen Land des Horns von Afrika. Eine Ausreise während des Militärdienstes gilt als Landesverrat. Eine Flucht ist also mehr oder weniger endgültig. Bei einer Rückkehr erwarten die Betroffenen hohe Gefängnisstrafen. Flüchtlinge aus Eritrea können also im Gegensatz zu den vielen Vertriebenen der Nachbarländer nicht auf eine Wiederansiedlung hoffen.
Somalische Lebensgrundlage liegt auf europäischen Tellern
Im Falle von Somalia wird die Mitverantwortung der EU besonders deutlich. Seit 1991 ist das Land praktisch führungslos.
Der Staat kontrolliert vielleicht ein paar Straßenzüge.
An der somalischen Grenze zu Kenia befinde sich das weltweit größte Flüchtlingslager, so Dr. Weber. Das ist kein Zufall. Denn nicht nur fehlende staatliche Infrastruktur und die Al-Shabaab-Miliz erschweren Entwicklung in jeder Hinsicht. Somalia lebt vom Fischfang. Inzwischen fischen allerdings rießige Trawler die Bestände leer. Die kommen aus dem Iran, dem Jemen – und aus EU-Ländern wie Frankreich oder Spanien.
Durch diesen illegalen Fischfang europäischer Länder haben große Teile der somalischen Bevölkerung ihre Lebensgrundlage verloren. Die EU profitiert also von einem schwachen somalischen Staat, der seine Rechte nicht schützen kann. Der politische Wille, um das zu unterbinden, reiche eben nicht aus.
Was haben wir damit zu tun?
Nach dem Vortrag ist Zeit für eine Diskussion. Zunächst stellt Elisabeth Bollrich, Referentin der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin für Östliches Afrika, Fragen mit aktuellem Bezug.
Warum fliehen gerade jetzt so viele Menschen aus dem Horn von Afrika, wo die Zustände in den Herkunftsländern doch schon seit mehreren Jahren so katastrophal sind? Wie sind die aktuell geplanten Rückführungsabkommen zu bewerten? Und was haben wir damit zu tun?
Spätestens hier wird deutlich, wie die Interessen und Entwicklungen vieler Länder, vor allem auch Transitländer, die Entscheidung zur Flucht beeinflussen. So erhöhen zum Beispiel das Erstarken des IS im Transitland Libyen, das Vorgehen der EU gegen Schlepper und die Planungen zu Rückführungsabkommen den Druck auf Flüchtlinge. Denn das sind unter anderem Faktoren, die die Flucht zunehmend schwieriger und teurer machen – also flieht man umgehend, solange man noch kann.
Versicherheitlichung ist eine große Gefahr
Besonders beim Thema Rückführungsabkommen findet Dr. Weber klare Worte. Man wolle schnelle Ergebnisse sehen und verfalle in einen Aktionismus. Die Abkommen hätten nicht mit wirklicher Rückführung zu tun.
Die Staaten werden bei jedem Dritten sagen: “Nein, kennen wir nicht, das ist nicht unser Bürger”, oder andere Gründe finden.
Dr. Weber kritisiert außerdem ein Phänomen, das alle Politikfelder betrifft. “Versicherheitlichung”. Sie erhöhe die Gefahren der Flucht und sei
immer Teil des Problems, bislang nie Teil der Lösung.
Im Verlauf der Diskussion mit dem Publikum melden sich einige Eritreer zu Wort. Ein Mann um die 40 äußert sich leidenschaftlich über die Kooperation der EU mit dem Regime in seinem Heimatland. Das Handeln der EU sei zu unkritisch und richte Schaden an. Dafür bekommt der Mann Beifall aus dem Publikum.
Was können wir tun?
Unter anderem meldet sich ein bärtiger Mann mit Akzent in vorwurfsvollem Ton. Auf einem Klemmbrett hat er sich Notizen gemacht. Auch er kritisiert die Zusammenarbeit mit den Regierungen der betreffenden Staaten. Man solle in die Entwicklung der Bevölkerung investieren, sonst seien die Ressourcen verschwendet. Für diesen Aspekt interessieren sich viele der Zuhörer.
Dr. Weber äußert sich dazu, man müsse seine Erwartungshaltung korrigieren. Regierungen wie die im Sudan oder in Eritrea empfänden Beteiligung der Bevölkerung als Bedrohung. Nach einer Stunde Diskussion unter der Moderation von Frau Bollrich besteht noch viel Redebedarf.
Vor allem die Wortmeldug einer jungen Eritreerin bleibt im Gedächtnis:
Wer flüchtet denn gerne? Es ist kein schönes Gefühl, jahrelang isoliert zu sein. Aber Schuldzuweisungen bringen uns nicht weiter.