Ladenburg/Rhein-Neckar, 20. März 2012. (red) Charly Graf beeindruckt. Als Mannheimer Box-Legende. Als nachdenklicher Ex-Sträfling. Als humorvoller Erzähler. Als Mensch. Winfried Seidel hat Graf ins Ladenburger Benz-Museum zur Lesung eingeladen – von Mensch zu Mensch. Ein Abend der Emotionen. Spannend. Ergreifend.
Von Hardy Prothmann
Also, ich stamme aus den Benz-Baracken. Ich habe mit meiner Mutter auf 20 Quadratmetern gehaust. Sie hatte ein großes Alkoholproblem. Sie arbeitete in einer Fabrik.
Der Abend wird mit einem Archivfilm eingeleitet. Mitte der 50-er Jahre. Mannheim. Waldhof. Benz-Baracken. Arbeiterviertel. Armut. Suff. Straße. Charly Graf erzählt aus seinem Leben. Und von seinem ersten Kampf.
Damals war er fünf Jahre alt. Seine Mutter brachte vier Männer mit nach Hause. Natürlich waren alle betrunken. Und natürlich wurde eine Sex-Party draus. Und natürlich wollte der kleine Charly seiner Mama helfen. Die stöhnte unter den Männern. “Die Männer tun ihr weh”, dachte Charly. Der kleine Charly griff die Männer an, boxte, was der kleine Körper hergab.
Ich bekam von einem der Kerle eine mächtige Ohrfeige, die mich in die Zimmerecke donnerte. Da saß ich dann die Nacht und schaute zu, was da abging. Ich hatte Angst.
Charly Graf sitzt auf dem Podest im Ladenburger Benz-Museum. Ein massiger Mann. Seine Oberarme sind unglaublich muskulös. Das Gesicht geschunden. Boxernase, narbige Haut von den Schläfen über die Augenbrauen. Heute ist er sechzig Jahre alt und kann frei über seine Angst reden. Früher musste er ums Überleben kämpfen und im Zweifel schlug er zu.
Wenn er redet, boxt er auch ein wenig. Die Hände gehen hoch, vor und zurück mit rotierenden Schultern. Antäuschen und zuschlagen. So erzählt er auch. Spannend.
Sein hochdeutsch ist bemüht – der Mannheimer Dialekt ist gut zu hören. Charly Graf spricht über ein Leben, das er gelebt und vielleicht auch mehr überlebt hat. Im Kampf.
Ob mit Freiern seiner Mutter, mit ihr, mit sich, mit anderen. Mit der Realität. Mit der Hoffnung. Mit dem Absturz ins Verbrechen. Mit dem Knast. Und letztlich mit der bangen Frage, ob er das alles überlebt.
Mit sieben Jahren bin ich erstmals zum Box-Training gegangen. Zu zehnt haben wir Dienstags und Freitags in der Waldhofschule trainiert. Die Box-Handschuhe stellte der Club. Trainiert wurde in den Straßenkleidern. Kraft- und Konditionsübungen. Schläge gegen den Sandsack.
Charly Graf hört zu, wie Museumsleiter Winfried Seidel aus der Biographie “Kämpfe für Dein Leben” vorliest. Seidel hat die Mannheimer Box-Legende nach Ladenburg eingeladen. Quasi “von den Benz-Barracken in die Benz-Fabrik”.
Ich lernte schnell, dass ich anderen überlegen war. Beim Boxen wurde es mir leichter. Ich konnte meine Angst in der Bewegung, in den Schlägen vergessen.
Rund 100 Gäste lauschen dem Vorleser Seidel. Auch Charly Graf hört zu. Angespannt. Oft nickt er, als wolle er bestätigen: “Ja, so war es.” Oft knetet er seine Finger, versucht, irgendwie zu entspannen. Er ist nervös. Wie vor einem Kampf. Und zwischendrin steht er immer wieder auf, wenn er über sich und sein Leben erzählt.
Das Publikum ist mucksmäuschenstill. Außer, wenn Charly Graf auch mit dem ihm eigenen Humor erzählt. Wie die Geschichte von einem Jungen aus einer guten Siedlung, der leider, leider durch die Benz-Baracken zur Schule gehen musste. Dem nahm er jeden Morgen das Pausenbrot ab. Dessen Mutter reagierte pragmatisch und gab ihrem Sohn zwei Pausenbrote mit.
Jahrzehnte später trifft Charly den Jungen wieder. Graf braucht eine Wohnung, der Junge ist Chef bei einer Wohnungsgesellschaft. Als Graf vorstellig wird, sagt ein Mitarbeiter: “Charly Graf? Der Chef wartet schon dreißig Jahre auf Sie.” Graf denkt: “Oh je, hier bekomme ich keine Wohnung.”
Im Büro springt der Mann auf und sagt:
Mein Pausenbrot bekommst Du nicht mehr.
Das Publikum lacht – die Pointe hat gesessen. Charly bekommt eine Wohnung. Und erzählt weiter:
Dieser Kampf war für mich zu früh.
Er springt in der Zeit zurück. Als Ein-Millionen-Dollar-Mann wird er damals gehandelt. Schwarz, stark, ohne einen Schimmer, wie es läuft. Mit 17 Jahren bekommt er seine erste Lektion im Ring. Und im System – die nächste im Rotlicht-Milieu. Er rutscht ab.
Ich war hochgradig aggressiv und eine Gefahr für andere.
Seine Angst und Unsicherheit machten ihn brutal. Schließlich wurde er mehrfach verurteilt, saß über sechs Jahre im Gefängnis.
Die habe ich mir verdient.
Keiner lacht – alle hören zu. Er wird nach Stuttgart-Stammheim verlegt und lernt den RAF-Terroristen Peter-Jürgen Boock kennen und mit diesem die Literatur.
Ich habe den Zwerg körperlich aufgebaut und er mich kulturell. Das war eine neue Welt für mich. Diskussionen über das, was ich gelesen habe. Dostojewski, Handke, Hesse. Plötzlich war ich sicher, dass ich rauskomme, es packe, was anderes mache.
Frech schafft er es, aus dem Knast heraus einen Titelkampf zu organisieren. Am 20. Juli 1984 schlug er Andre van den Oetelaar in der Frankfurter Festhalle in der zweiten Runde K.O.. Gecoacht von seinen Wärtern. Drei Monate später gelingt ihm gegen Thomas Classen nur ein Unentschieden über sechs Runden.
Als Häftling wurde er von Polizisten eskortiert. Für die organisierte er ein “Hotel”:
Die schauten nicht schlecht, überall ein Mädel vor der Tür. Die Polizisten waren erst geschockt. Das war kein Hotel, das war ein Puff. Aber die haben sich schnell daran gewöhnt, die wurden ja, äh, gut versorgt.
Am 09. März 1985 kämpfte er in Düsseldorf um den deutschen Meistertitel und besiegte Reiner Hartmann.
Für die Medien waren mein bewegtes Leben und meine Hautfarbe ein Thema.
Am 29. November 1985 kämpft er gegen Thomas Claasen und verliert durch eine höchst umstrittene Punkteentscheidung.
Classen hat sich später bei mir entschuldigt und zugegeben, dass ich den Kampf klar gewonnen hatte. Dafür verdient er meinen Respekt.
Was für ein Leben – Sieg und Niederlage liegen nebeneinander. Und oft nicht sportlich entschieden, sondern durch die “geltenden Verhältnisse”. Charly Graf äußert sich beispielsweise bitter über den Sauerland-Boxstall und den Box-Betrieb.
Schiebung gab es schon damals und das ist heute noch viel schlimmer – es sieht sauber aus. Aber keiner stellt kritische Fragen. Boxen ist kein Sport. Es ist ein unsauberes Geschäft.
Man kann Charly Graf das glauben oder nicht. Der ängstliche Junge aus den Benz-Baracken ist heute ein belesener Mann mit immer noch starken Armen und einem Talent, Geschichten zu erzählen. Und er erzählt sie authentisch. Und er ist nicht mehr an dem Geschäft beteiligt – also unverdächtig, einen Vor- oder Nachteil zu haben. Charly Graf hat Charakter und Charisma.
Charly Graf ist schon lange sauber. Rehabilitiert. Arbeitet als Sozialarbeiter bei der Stadt. Hilft gefährdeten Jugendlichen. Und verkauft an diesem Abend sein Buch. Der schwarze Mischling aus den Benz-Baracken, mit einer Chance, die er nicht nutzen konnte oder die ihm nicht gegönnt worden ist. Oder beides.
Er hat viel eingesteckt und ausgeteilt. Jetzt verkauft er sein Leben erneut – diesmal als Buch. Lesenswert schildert er Höhen und Tiefen, Milieu und Einkehr. Hoffnung und Enttäuschung – wäre vieles nicht so bitter, könnte man von einem erfüllten Leben sprechen. Ein Leben über viele Grenzen hinweg hat er bis heute allemal gelebt.
An diesem Abend geht der Bücherstapel weg. Die Gäste wollen selbst nachlesen, wie dieses Leben bis zum Druck des Buches war. Wieso jemand wie Graf von einem wie Seidel so geschätzt wird. Gerhard Seidel ist beeindruckt von Graf und seinem Charakter, das spürt man. Und Graf ist froh, nicht im Rotlicht-Milieu zu sitzen, sondern auf der Lesebühne im Kerzenschein, vor Menschen, die er nicht besiegen muss, sondern mit sein Geschichte, seiner Nachdenklichkeit unterhalten darf.
Eine Botschaft hat Charly Graf nicht. Und das ist gut so. Er hat genug erzählt. Er will niemandem sagen, wo es langgeht.
Die Gäste verlassen beeindruckt das Benz-Museum. Mit der Geschichte des ängstlichen Jungen aus den Benz-Baracken in der Tasche und im Herz.