Mannheim, 22. Januar 2016. (red/ms) Der Gedanke klingt utopisch: Öffentlicher Nahverkehr für alle – ohne Fahrscheine. Was kaum vorstellbar klingt, ist in anderen Städten Europas bereits Realität. Auf Antrag der SPD-Fraktion sollen nun auch in Mannheim die Möglichkeiten zur Umsetzung überprüft werden. Die Hürden sind gewaltig – aber womöglich nicht unüberwindbar.
Kommentar: Minh Schredle
Mobilität ist eine Voraussetzung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Aber: Mobilität ist teuer. Viele können oder wollen sich kein (eigenes) Auto leisten. Doch auch wer den Nahverkehr nutzt, muss sich das etwas kosten lassen: So kostet die einfache Fahrt von Mannheim nach Heidelberg seit Jahresanfang stolze 5,60 Euro.
Für viele Einkommensschwache und Geringverdiener ist das nahezu unbezahlbar. Zumindest auf Dauer. Und auch die Monatskarte ist zum Preis für 130,50 Euro für viele eine finanzielle Herausforderung. Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen bieten Sozialtickets an – aber die sind oft nur ein Tropfen auf dem heißen Stein und bringen – zumindest in Mannheim und Ludwigshafen – kaum spürbare Verbesserungen.
Bei den vergangenen Haushaltsdiskussion wurde in Mannheim auch eine Aufstockung des Budgets für das Sozialtickets beraten – und mehrheitlich abgelehnt. Das ist auch der schwierigen finanziellen Lage der Stadt zu schulden, die in den kommenden Monaten und Jahren eine ganze Reihe von Mammutprojekten zu bewältigen hat.
Kann die finanzielle Last gestemmt werden?
Vor diesem Hintergrund erscheint der Antrag der SPD-Fraktion zunächst etwas verwunderlich. Es sei ganz sicher keine Herausforderung, die sich über Nacht lösen lässt, sagt Fraktionsvorsitzender Ralf Eisenhauer – sondern eine “Aufgabe für die nächsten Jahrzehnte”: Die Stadtverwaltung soll prüfen, ob ein fahrscheinloser Nahverkehr in Mannheim umsetzbar wäre – und wenn ja, zu welchen Bedingungen.
Gegen die Vorstellung an sich hat wohl niemand etwas einzuwenden. Aber wie soll das finanziert werden? Wie sollen die Einnahmeverluste der rnv kompensiert werden?
Doch Nahverkehr ohne Fahrscheine ist keine völlige Utopie: Vergleichbare Konzepte gibt es schon heute, beispielsweise in Städten in Italien, Frankreich, Spanien Großbritannien, Polen, Litauen und der Türkei – in Deutschland allerdings nicht.
Riesige Hürden
Grundsätzlich zeigen die erfolgreiche Projekte, dass der fahrscheinlose Nahverkehr nicht vollkommen unmöglich wäre. Ebenso muss klar sein: Die Hürden bis zur Umsetzung sind gewaltig. In Teilaspekten ist unklar, ob die Modelle aus dem Ausland überhaupt übertragbar wären, weil es in Deutschland bislang kaum Rechtssprechungen und Präzedenzfälle zu diesem Sachverhalt gibt.
Der größte Knackpunkt ist aber die Finanzierung. Die Stadt Mannheim hat beim Öffentlichen Nahverkehr keine Tarifhoheit. Sie darf an den Verhandlungen teilnehmen. Aber was die Fahrten für wen kosten, wird letzten Endes vom Verkehrsverbund Rhein-Neckar bestimmt.
Im Antrag heißt der SPD heißt es dazu:
Bei 300.000 zahlenden Personen wäre laut Angaben der Verwaltung mit einer monatlichen Abgabe von weniger als 25 Euro pro Person zu rechnen, um die bisherigen Erträge zu decken.
Das wäre zumindest deutlich günstiger als alle angebotenen Monatskarten – aber immer noch ein dicker Brocken für viele – vor allem für die, die gar nicht vorhaben, den Nahverkehr überhaupt zu nutzen.
Die Idee ist es trotzdem wert, diskutiert zu werden. Denn neben überforderten Knotenpunkten in der Neckarstadt, in Käfertal und rund um die Augusta-Anlage hat vor allem die Innenstadt eine Entlastung vom Autoverkehr bitter nötig. Ein erklärtes Ziel der Stadt ist es, den Anteil der Autofahrer am Verkehrsaufkommen deutlich zu reduzieren – auch wegen Feinstaub-Gefahr und anderer schädlicher Emissionen.
Mehr Nachfrage heißt mehr Infrastruktur
Im Gemeinderat wurde die Idee grundsätzlich fraktionsübergreifend begrüßt. Hoch umstritten ist dagegen die Finanzierung. Aus dem laufenden Haushalt der Stadt ist es nicht praktikabel, die erforderlichen Zuschüsse in mehrstelliger Millionenhöhe Jahr für Jahr zu finanzieren. Eine Zwangsabgabe für die Mannheimer Bevölkerung würde dagegen erstens bei vielen Unmut auslösen und zweitens vermutlich rechtlich nicht zulässig sein.
Was erschwerend hinzukommt: Selbst wenn die laufenden Kosten für die rnv irgendwie gedeckt werden können, stellt das noch nicht den Erfolg des Vorhabens sicher. Denn sollte für den Nahverkehr tatsächlich kein Fahrschein mehr benötigt werden, würde das aller Voraussicht nach einen drastischen Anstieg der Nachfrage bedeuten.
Auch das wäre aus Sicht der Stadt grundsätzlich zu befürworten, schließlich soll der Autoverkehr reduziert werden. Aber: Mehr Nachfrage braucht mehr Infrastruktur: mehr Fahrzeuge, mehr Personal, neue und barrierefreie Haltestellen, und, und, und…
Gedanke bleibt spannend
Das sind Aufgaben, die aus heutiger Perspektive nicht bewältigbar erscheinen. Langfristig könnten sich diese Investitionen allerdings rechnen. Deutlich weniger Autoverkehr schont nicht nur die Umwelt. Auch die Straßen werden geschont, müssen seltener saniert werden.
Der allerwichtigste Faktor wäre aber: Eine große Zahl von Menschen würde im wahrsten Sinn des Wortes wieder einen Anschluss erhalten: Für die Ausübung vieler Berufe wird Mobilität vorausgesetzt. Ohne die Möglichkeit, überhaupt zum Arbeitsplatz gelangen zu können, werden viele im Vorfeld ausgeschlossen.
Auch wenn es heute also noch nach Zukunftsmusik klingt, sollte man den Gedanken im Hintergrund behalten. Die Hürden scheinen zur Zeit kaum überwindbar. Trotzdem wurde die Stadtverwaltung damit beauftragt, die Möglichkeiten zur Umsetzung zu überprüfen. Die Ergebnisse dürfen mit Spannung erwartet werden.