Mannheim, 11. Mai 2016. (red/ms) Inmitten der Planken steht dieses namenlose Etwas. Fast jedem Mannheimer und Besucher von außerhalb dürfte es irgendwann einmal in die Augen gefallen sein – aber kaum jemand scheint ihm Beachtung zu schenken. Dass jemand stehen bleibt, um dem Werk ein paar Augenblicke zu widmen, erlebt man eher selten. Und warum auch? Was soll das bitte sein? Nun sollen die Planken umgestaltet werden und das Werk muss weichen – Zeit sich Gedanken zu machen, was Kunst im öffentlichen Raum eigentlich bezwecken soll.
Von Minh Schredle
Menschenmassen schlendern durch die Straßen an diesem sonnigen Sommertag. Viele sind ins Gespräch vertieft, die Laune ist gut, man hört viele Leute entspannt lachen. Eigentlich sind die Bedingungen ideal, ein wenig zu verweilen. Zu entschleunigen.
Wenn jemand allerdings vor diesem namenlosen Etwas zur Ruhe kommt, dann in der Regel nicht, um es zu betrachten – sondern um es als Sitzgelegenheit zu nutzen oder mit Aufklebern zu verunstalten.
Das ist auch nicht sonderlich wundersam; denn es erscheint geradezu unverschämt, wie nichtssagend das farb- und formlose Kunstwerk wirkt und wie kryptisch es seine Botschaft versteckt haben muss – sofern es diese denn überhaupt gibt.
Blanke Freifläche
Ein Passant bleibt schließlich doch stehen, die Stirnfalten sind skeptisch gerunzelt und regelrecht angeekelt spottet er:
Was soll das sein? Kunst?
Besonders ästhetisch wirkt es jedenfalls nicht: An einigen Stellen blättert der Lack ab. Manche Aufkleber wurden ungestüm entfernt, die Überreste sind aber noch klar erkennbar. Insgesamt befindet sich das Werk in einem kümmerlichen Zustand.
Vielleicht war Schönheit aber ohnehin nicht die zentrale Absicht. Was genau die Plastik bezwecken will, kann kaum benannt werden. Der Raum, der für mögliche Interpretationen offen gelassen wird, ist groß.
Die Aussage des Namenlosen
Die Mannheimer Stadtverwaltung bezeichnet das Objekt in ihren Plänen zur Umgestaltung der Planken notgedrungen als “Röhrenplastik”. Auf den ersten Blick ist das naheliegend, denn schließlich handelt es sich um eine Plastik, die wohl am ehesten Röhren ähnelt.
Der Künstler selbst, Hans Nagel, wollte seinem Werk hingegen keinen Titel geben – und sagt damit viel mehr aus, als mit einer Benennung des vermeintlich Offensichtlichsten.
Es wäre bitterlich enttäuschend, sollte der Künstler tatsächlich nur im Sinn gehabt, einfach “Röhren” in die Welt zu setzen. Über Hans Nagel (1926-1978) heißt es, die Malerei sei ihm zu konservativ geworden – in einer Zeit, in der diese Kunstgattung so befreite und entfesselte Formen wie selten zuvor in ihrer Geschichte annehmen durfte – ohne den Anspruch aufgeben zu müssen, Kunst zu sein.
Definitionsschwierigkeiten
“Aber was genau ist Kunst heute eigentlich?”, fragt sich der Laie – und stößt prompt auf unzählige Antworten aus verschiedensten Epochen, die teils vollkommen unvereinbar sind: Muss ein Künstler herausragende Fertigkeit nachweisen oder reicht es, wenn er seiner Sache mit Leidenschaft nachgeht?
Festzustehen scheint zumindest, dass es zu fast jeder Zeit in fast jeder Kultur Personen gegeben hat, die eine sehr präzise Vorstellung davon zu haben meinten, wie man “echte” Kunst klar von schierem Dilettantismus unterscheiden zu können glaubte – bis eine Gruppe entschlossener Avantgardisten eben diesen vermeintlichen Dilettantismus so offensichtlich zur Kunst machte, dass veraltete Definitionen überarbeitet werden mussten.
So war der Impressionismus in seiner Anfangsphase unter Kunstkritikern verpönt, da er belanglos Alltägliches – wie etwa einfache kleine Leute beim Frühstück im Freien – in den Mittelpunkt seiner Darstellungen rückte. “Echte Kunst” – das war zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch ganz überwiegend Historienmalerei. Ein Bild musste relevant sein, also relevante Personen und relevante Ereignisse zeigen – am besten in einer Komposition nach Maß und voller Pathos.
Dass sich die Kunst hingegen vom Objekt der Darstellung gelöst hat und Aspekte in den Vordergrund gerückt werden, wie die Schönheit von Form und Farbe an sich ist eine vergleichsweise moderne Entwicklung, die ins Abstrakte mündete – und einfarbig bemalte Leinwände in Museen ermöglichte oder als Dadaismus die Zerstörung der Ästhetik zur neuen, anerkannten Kunstform erhebt.
Farb- und formlos
Den Kunstbegriff zu definieren, scheiterte Mal um Mal – denn dieser befindet sich in einem ständigen Wandel. Kunst ist aber definitiv mehr als das, “was hübsch ist” oder das, “was Bedeutung hat”.
Kunst kann keine Form vorgeschrieben werden. Kunst kennt keinen Zwang – denn sie ist Selbstzweck. Kunst ist sogar, wenn man erbost ein namenloses, weises, röhrenartiges Etwas anstarrt und darauf hofft, dass es einem doch bitte offenbaren möge, warum es eine Daseinsberechtigung haben soll. Manche Kunst setzt sich so erst im Kopf zusammen.
Keine Kunst ist hingegen, wie gleichgültig und undankbar mit den Werken in den Planken – und insbesondere “Ohne Titel” – umgegangen wird: Sie verkommen vor sich hin und niemand scheint sich darum zu scheren. Wenn die Plastik aus den Planken verschwindet, wird ihr wohl kaum jemand Tränen hinterherweinen.